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Sterbehilfe – Mit Hilfe zum Ende
Sabrina Steiger · 13.09.2024

Gehört selbstbestimmtes Sterben zum selbstbestimmten Leben? Das Bundesverfassungsgericht hat dazu ein Urteil gefällt. Symbolfoto: laplateresca/stock.adobe.com
„Es hat mich keiner gefragt, wann ich auf die Welt kommen will. Da möchte ich wenigstens bestimmen, wann ich gehe“, sagt Heribert Heier (Name geändert). So bald soll das nach dem Willen des 91-Jährigen noch gar nicht sein. Er wohnt seit einem halben Jahr in einem Kölner Seniorenheim, ist gesund und freut sich des Lebens. Doch schon in jungen Jahren ist er Sterbehilfevereinen beigetreten. Zuerst der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben (DGHS). Dann dem deutschen Ableger des Schweizer Vereines Dignitas und auch noch Exit International, ebenfalls eine Schweizer Organisation. „Ich wollte wohl sichergehen“, meint Heier mit einem Augenzwinkern.
Denn eine Zeit lang galt der Weg in die Schweiz als eine der wenigen Möglichkeiten für Deutsche, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Sterbehilfe meint dabei im engeren Sinne den assistierten Suizid, also die Hilfe zum Freitod. 2015 wurde die „geschäftsmäßige Sterbehilfe“, also die wiederholt ausgeführte Hilfe zum Suizid, in Deutschland mit Paragraph 217 des Strafgesetzbuches unter Strafe gestellt. Sterbehilfevereine, deren Freitodbegleitungen auch vorher schon nicht rechtssicher erlaubt waren, stellten diese damit ganz ein.
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
Doch heute müsste Heribert Heier dafür nicht mehr in die Schweiz fahren. 2020 fällte das Bundesverfassungsgericht ein bahnbrechendes Urteil: Zum Recht auf selbstbestimmtes Leben gehöre auch das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Damit wurde der Paragraph 217 des Strafgesetzbuches für verfassungswidrig erklärt. Denn dieses Verbot mache die Ausübung des Grundrechts auf selbstbestimmtes Sterben fast unmöglich, so das Gericht.
Geklagt hatten unter anderen die DGHS, dann auch Ärzte, die Sterbehilfe leisten wollten, und Kranke, die diese Hilfe in Anspruch nehmen wollten: „Für uns war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein erfreulicher Erfolg, in seiner Reichweite sogar überraschend“, sagt Volker Leisten von der DGHS. Der 80-Jährige berät DGHS-Mitglieder im Raum Nordrhein und saß selbst lange im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben. Das Überraschende an dem Urteil: Nicht nur unheilbar Kranken wurde das Recht zugestanden, sich selbst zu töten und dafür Hilfe in Anspruch zu nehmen, sondern auch jedem anderen, sofern das seinem freien Willen entspricht. Dieses Recht bestehe in „jeder Phase menschlicher Existenz“, so die Urteilsbegründung. Das Recht auf Selbstbestimmung wertet das Gericht ausdrücklich höher als die Verpflichtung des Staates zum Schutz des Lebens.
Assistierter Suizid – wie helfen Vereine?
Seit dem Urteil vermittelt die DGHS Freitodbegleitungen. Aber nicht jedem – nur Mitgliedern und nur bei nachvollziehbaren Motiven. Auch eine Wartezeit von mindestens einem halben Jahr nach der Aufnahme muss erfüllt sein. Dann kann ein Antrag gestellt werden. Darin muss der Sterbewunsch formuliert und klargestellt werden, dass der Entschluss freiverantwortlich und wohlerwogen gefasst wurde. Denn diese Freiverantwortlichkeit ist auch laut Bundesverfassungsgericht die zentrale Bedingung für die Suizidhilfe.
„Das heißt“, so Leisten, „der Mensch muss wissen, was er tut – ist also urteils- und entscheidungsfähig. Er handelt nicht im Affekt und kennt Alternativen. Es ist ein dauerhafter Wunsch erkennbar. Er wird nicht von Dritten beeinflusst. Und er behält die Tatherrschaft, das heißt, er nimmt das Medikament selbst ein.“ Tut er das nicht, handelt es sich um „Tötung auf Verlangen“, was in Deutschland verboten bleibt.
Als nachvollziehbare Motive erkennt die DGHS nicht nur schwere und tödlich verlaufende Krankheiten an. Auch „Lebenssattheit“, also wenn Menschen aus verschiedenen Gründen mit zunehmendem Alter keine Lebensqualität mehr spüren, ist statthaft. Oder wenn verschiedene Krankheiten das Leben zur Qual machen, die einzeln an sich nicht lebensbedrohlich sind. „Wenn jemand zum Beispiel sagt, er wolle nicht als Pflegefall mit Verlust jeglicher Autonomie enden, dann hat auch er das Recht, sein Lebensende selbst zu bestimmen“, sagt Leisten.
Angehörige spielen für die Sterbebegleitung eine große Rolle. Foto: smolaw11/stock.adobe.com
Am besten mit Angehörigen
Im Jahr 2023 haben 563 Mitglieder des Vereins einen Antrag auf Vermittlung einer Freitodbegleitung gestellt. 34 davon wurden abgelehnt – hauptsächlich, weil die Antragsteller nach Ansicht der DGHS nicht urteils- und entscheidungsfähig waren. Das kann bei Demenz oder psychischen Erkrankungen sein – muss aber nicht, sagt Leisten. Im Anfangsstadium der Demenz könnte ein Betroffener durchaus noch selbst entscheiden. Dann muss der Antragsteller ein psychiatrisches Gutachten vorlegen. Wenn alles geprüft und für nachvollziehbar befunden wurde, wird der Auftrag an ein externes Team weitergegeben.
Die Freitodbegleiter, vermittelt durch die DGHS, sind immer Zweierteams aus einem Juristen und einem Anzeigen Mediziner. Sie prüfen erneut die Freiverantwortlichkeit des Sterbewilligen. Im zweiten Gespräch geht es um die medizinische Seite. Alternativen, zum Beispiel aus der Palliativmedizin, werden vorgestellt. Leisten betont: „Wir empfehlen immer, dass die Angehörigen bei den Gesprächen dabei sind. Es ist erfahrungsgemäß besser für alle Beteiligten, wenn der Sterbewunsch im persönlichen Umfeld abgestimmt ist.“
Die Palliativmedizin bietet Alternativen. Symbolfoto: Trsakaoe/stock.adobe.com
Bleiben die Sterbewilligen bei ihrem Wunsch, machen die Begleiter einen Termin aus. Das Team kommt nach Hause. Angehörige oder Freunde können auf Wunsch anwesend sein. Der Jurist ist Zeuge, der Arzt legt einen intravenösen Zugang, dessen Funktion er zunächst mit Kochsalzlösung überprüft. Dann wird der Suizidwillige noch einmal gefragt, ob er weiß, was passieren wird. Wenn er bejaht, „muss er selbst den Zugang aktivieren“, so Leisten. Erst dann fließt die tödliche Infusion in sein Blut: das Betäubungsmittel Thiopental. „Nach wenigen Minuten tritt der klinische Tod ein“, beschreibt Leisten. Der Jurist informiert nun die örtliche Kriminalpolizei. Sie überzeugt sich vor Ort anhand der Dokumente davon, dass der Freitod selbstbestimmt war. Im Normalfall wird der Leichnam dann sofort für den Bestatter und alle weiteren Schritte freigegeben.
Kritik am Urteil
Ohne Sterbehilfeverein geht es in Deutschland kaum, sich mit medizinischer Hilfe das Leben zu nehmen. Professor Dr. Raymond Voltz, Leiter der Palliativmedizin an der Uniklinik Köln, ist darüber froh. Die Liberalität des Urteils von 2020 bereitet dem Arzt Sorge. Denn damit sei Deutschland das weltweit einzige Land, in dem Menschen auch ohne unheilbare Krankheit der assistierte Suizid zugestanden werde. Diesen solle man seiner Meinung nach aber nicht zu einfach machen. Er nennt ein Beispiel aus der Suizidprävention: „Damit Menschen nicht von einer Brücke springen, hindere ich sie am besten am Zugang und bringe Schutzgitter an.“ Das Urteil dagegen ermögliche im übertragenen Sinne das Gegenteil, nämlich den Menschen sogar noch mit einem roten Pfeil den Weg zu weisen, ganz nach dem Motto: Hier entlang zur Selbsttötung.
Doch so einfach ist es noch nicht. Bislang müssen Sterbewillige in Deutschland erst einmal einen Arzt finden, der ihnen hilft. Die sind rar, obwohl die ärztliche Berufsordnung die Hilfe beim Suizid seit 2021 nicht mehr verbietet. Als ihre Aufgabe sieht sie es jedoch nicht. „Ein Leben zu beenden, ist keine ärztliche Aufgabe“, sagt auch Professor Voltz. Seine Aufgabe als Palliativmediziner sei es, einen Menschen beim Sterben zu begleiten, ihm einen würdevollen und schmerzfreien Tod zu ermöglichen – mit Schmerzmitteln oder palliativer Sedierung zum Beispiel, also der Gabe starker Beruhigungsmittel, damit der Sterbende Symptome wie Angstzustände und Atemnot nicht spürt.
Sterben, erklärt er, würde der Mensch dann aber an seiner Erkrankung. „Ein Nein zu lebenserhaltenden Maßnahmen, der freiwillige Verzicht auf Essen und Trinken – es gibt viele Möglichkeiten, selbstbestimmt zu sterben“, sagt Professor Voltz. Er rate Schwerkranken, es immer erst einmal mit der Palliativmedizin zu versuchen. Den Allermeisten sei mit deren Möglichkeiten schon geholfen. Den Wenigen, die nach reiflicher Überlegung, in Kenntnis aller Alternativen und angesichts ihrer fort- schreitenden Erkrankungen immer noch den assistierten Suizid wünschten, gesteht er diesen zu. Er warnt nur davor, die Selbsttötung zur anerkannten gesellschaftlichen Normalität werden zu lassen.
Jeder Mensch hat das Recht auf Selbstbestimmung. Symbolfoto: alzay/stock.adobe.com
Statt Politik entscheiden Gerichte
Wie das Recht auf selbstbestimmtes Sterben in der Praxis umgesetzt werden soll, darum ringt seit 2020 die deutsche Politik. Soll es Beratungsstellen geben, in denen die Sterbewilligen - ähnlich wie beim Schwangerschaftsabbruch - einen Schein bekommen? Soll die Hilfe zum Suizid grundsätzlich erlaubt oder nur in Ausnahmefällen nicht strafbar sein? Bisherige Gesetzesentwürfe fanden nie eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Im Mai 2024 legte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach eine nationale Suizidpräventionsstrategie vor.
Derweil müssen die Gerichte entscheiden: Noch im April 2024 wurde ein Berliner Arzt zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er einer depressiven Frau zum Suizid verholfen hatte. Die Frau habe aufgrund ihrer Depression nicht freiverantwortlich entscheiden können, so das Gericht. 2023 entschied das Bundesverwaltungsgericht Leipzig gegen zwei Männer, die per Klage erzwingen wollten, dass der Staat ihnen Zugang zu dem Medikament Natrium-Pentobarbital (NaP) ermöglicht. Die Männer wollten von Ärzten unabhängig ihr Leben beenden, wenn sich ihre Erkrankungen verschlechterten.
Mit NaP, das oral eingenommen werden kann, ginge das. Es ist in Deutschland jedoch nur für die Tiermedizin zugelassen. Und so soll es nach dem Urteil auch bleiben. Dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben stehe das nicht im Wege, so die Begründung. Schließlich gebe es andere Möglichkeiten über Ärzte und Sterbehilfevereine.
Heribert Heier verfolgt das alles aufmerksam. Besonders die Diskussionen im Bundestag haben ihn geärgert: „Junge Leute, die noch kein Leid gesehen haben, sagen, der Mensch darf nicht selbst über seinen Tod bestimmen.“ Er dagegen denkt zum Beispiel an eine ehemalige Nachbarin im Heim: „Sieben Jahre lag die alte Dame im Bett. Sieben Jahre! Jetzt ist sie endlich gestorben.“ Mittlerweile ist Heier nur noch in zwei Sterbehilfevereinen Mitglied. Und ob er wirklich einmal einen davon in Anspruch nehmen wird, weiß er nicht. Doch die Möglichkeit zu haben, beruhigt ihn. Er wünscht sich einen schönen Tod: „Nach einem langen Leben hat man das ja eigentlich auch verdient.“
Sterbehilfe – Was ist in Deutschland erlaubt?
• Passive Sterbehilfe: Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen, wenn die Patienten es so wünschen.
• Indirekte Sterbehilfe: die Gabe von starken Schmerzmitteln, auch wenn diese Behandlung die Lebenszeit möglicherweise verkürzt.
• Suizid: Sich selbst das Leben zu nehmen, ist nicht strafbar. Das Bundesverfassungsgericht stellte 2020 sogar fest, dass es ein Grundrecht des Menschen ist.
• Assistierter Suizid: Wer sterben will, darf einen Arzt bitten, ihm ein geeignetes Medikament zu beschaffen. Dieser darf helfen. Voraussetzung ist, dass die Person entscheidungsfähig ist, auf eigenen Wunsch sterben will und das Medikament selbst einnimmt.
Was ist in Deutschland strafbar?
• Aktive Sterbehilfe: Wenn eine andere Person das tödliche Medikament verabreicht, etwa als Spritze oder Infusion, auch wenn das dem ausdrücklichen Wunsch des Sterbewilligen entspricht. Diese Tötung auf Verlangen ist mit Paragraph 216 des Strafgesetzbuches unter Strafe gestellt.
Sie haben Selbsttötungsgedanken oder eine persönliche Krise?
Suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der anonymen Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner:
0800 / 11 10-111/-222.
Sterbehilfevereine:
Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben
Beratungstelefon Schluss.Punkt:
0800 / 802 24 00.
www.dghs.de
Dignitas Deutschland e. V.
Tel. 0511 / 336 23 44.
www.dignitas.de
Verein Sterbehilfe:
Tel. 040 / 23 51 91 00
www.sterbehilfe.de
Kosten (Beispiel DGHS):
Mitgliedschaft: 60 Euro/Jahr, 25 Euro für Sozialhilfeempfänger.
Antragsprüfung und Vermittlung der Freitodbegleiter: kostenlos.
Freitodbegleitung:
4.000 Euro pro Person oder 6.000 Euro für Paare.
In Härtefällen springt ein Solidarfonds ein, Eigenanteil immer 1.000 Euro.
Palliativmedizin:
Palliativ- und Hospiznetzwerk Köln e. V.
Tel. 0170 / 222 98 80,
Gabriele Grede.
https://palliativnetz-koeln.de
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Tags: Freitod , Sterbehilfe , Sterbehilfevereine
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